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Unerwartetes

Jomikel 17

Joy kämpft sich aus seiner Bewusstlosigkeit und Schwäche mit Zirkons und Czarns Hilfe heraus, während Sonde RX-23125S in einer unterirdischen Höhle nicht nur auf Unerwartetes trifft, sondern auch eine Entdeckung macht, die Einfluss auf Joy haben wird.

 

[Traumeinblendung]
Die Sonne scheint ins Fenster, als Joy kurz neben den Bildschirm blickt. Irisierendes Licht blendet ihn kurz, als in einem gegenüberliegenden Büro ein Fenster in Kippstellung gebracht wird. Joy wendet sich wieder seinem Bildschirm zu. Die Meldung, dass der Zugang noch immer nicht erreichbar ist, blinkt ihm entgegen. Und dabei hat er einige dringende Kommandos weiterzugeben, ansonsten crashen ihm einige seiner Kontingente gegen die derzeit programmtechnisch geschlossenen Hangartore. Nach einigen Minuten akzeptiert Joy die Situation. Neben ihm haben ja auch alle anderen Kommandanten derzeit dasselbe Problem. Auch sie haben keinen Zugang. Ein weiterer Lichtblitz streicht ihm über die Augen und für einen Sekundenbruchteil sieht er nur eine durchdringende Schwärze.

***

Dunkel, erdig und nass war es um ihn herum, als er langsam wieder erwachte. Zuerst zögernd dann aber stetig schneller werdend schob er sich nach vorn. Immer auf der Suche nach Beute oder einer Artgenossin. Letztere waren allerdings extrem selten zu finden. Und schon gar nicht in seinem derzeitigen Territorium. Er würde es verlassen müssen, was wiederum zu Zweikämpfen mit anderen Artgenossen führen würde, dessen Territorium er durchqueren musste. Zum Wandern und Kämpfen brauchte er aber Kraft. Und die fehlte ihm momentan. Es wurde Zeit für die Jagd.
Sein derzeitiges Territorium war recht weiträumig. So hatte er große Chancen auf Beute von der Oberfläche aber auch von darunter. Nicht weit von ihm entfernt verspürte er eine geringfügige Erschütterung. Recht weit unterhalb seiner jetzigen Position. Eine Beute, die sich vorsichtig bewegte. Mit verhaltener Kraft schob er sich in der entsprechenden Richtung und verfolgte mit, wie die Beute seine Annäherung wahrnahm und zu flüchten begann. Es wurde eine schwierige Jagd, denn die Beute kannte ihren Jäger. Sie tat letztendlich genau das Richtige, um zu entkommen, aber nicht dem Jäger aus dem benachbarten Territorium, der still auf sie gewartete hatte.
Er drehte rechtzeitig ab, denn für einen Kampf fehlte ihm die Kraft. Zudem hatte er für diese Jagd auch Kraft verbraucht. Nicht viel aber jede Schwächung würde zwangsläufig in Bewegungsunfähigkeit enden. Und die bedeutete den Tod für ihn. Denn dann würde er zur Beute seiner Beute werden. Er schob sich in Richtung Oberfläche und schon bald spürte er Erschütterungen. Beute gab es hier oben zur Genüge. Nur waren es immer nur kleine Häppchen, von denen er recht viele verspeisen musste, um daraus Kraft zu gewinnen. Zu solchen Häppchen griff er nur dann zurück, wenn er schon recht satt war oder wie jetzt zu schwach.
Dicht unterhalb der Oberfläche verharrte er. Es war hier sehr viel nasser als weit unten. In diesem Bereich kam er sehr viel schneller voran, ohne gleichviel mehr an Kraft zu verbrauchen. Zwar war hier die Beute zahlreicher aber dafür auch sehr viel kleiner als in seiner gewohnten Tiefe. Lange würde er hier in den oberen Schichten nicht überleben können. Aber nur hier konnte er jetzt die nötige Nahrung finden, um wieder etwas Kraft zu gewinnen. Er wartete, bis eine Erschütterung sich seinem Standort näherte. Er wartete bis zum letzten Augenblick und schoss regelrecht empor. Er hatte gut gezielt und es zappelte ein kleiner Vierbeiner in seinem Maul, als er in seine Röhre zurückglitt.

***

[Traumeinblendung]
Der Raketenangriff begann natürlich mitten zur Unzeit. Nachts um ein Uhr siebenunddreißig. Kommandant Jomikel sprang bei dem ohrenbetäubenden Lärm der Sirenen aus dem Bett und lief durch die Zwischentür zu seinem Kommandopult. Sieben Cougar-Raketen des Typs 77 flogen auf seine Basis zu. Die zwei automatischen Raketenabwehrtürme hatten sich bereits zu dem anfliegenden Verderben ausgerichtet und aktivierten ihre Abwehrmaßnahmen. Minuten später waren die Raketen heran und die Basis erbebte unter den Schwingungen, die deren Abwehrmaßnahmen mit sich brachten. Ein heller Lichtblitz, der den Untergang eines Silos zeigte, blendete Jomikel.

***

Es dauerte nicht lange und RX-23125S erkannte die ersten Hinweise auf den vermuteten Entfernungsmechanismus im Inneren der Röhre, durch den sie trieb. Sie versuchte, mehr an den Rand der Röhre zu kommen, was ihr auch gelang. Ihre Geschwindigkeit war noch immer sehr schnell und die Röhrenwand huschte nur so vorbei. Dabei bemerkte sie, dass sie wieder an ein Fenster vorbeigekommen war. Nur war dahinter keine Lichtquelle. Nun konnte RX-23125S auch die ersten weiteren Analysen der in der Röhre eingelassenen Strukturen ausmachen. Keine Symmetrie oder Ordnung war darin zu erkennen. Schnell erkannte RX-23125S, dass es kein Entfernungsmechanismus war, um Fremdkörper aus dem Wasserstrom der Röhre zu entfernen.
Eine Wahrscheinlichkeitsberechnung, die RX-23125S nebenher laufen ließ, bestätigte die Analyse der merkwürdigen Struktur. Sie war atypisch zu dem, was man an Technik und Mechanismen in der Ringwelt erwarten durfte. Und je näher RX-23125S der in die Röhre ragenden Struktur kam, umso mehr bestätigte sich die Analyse sowie die Wahrscheinlichkeitsberechnung. Die ersten Ausläufer der Struktur schlängelten sich an der Röhrenwand entlang. RX-23125S versuchte halt daran zu finden und schaffte es nach einigen vergeblichen Versuchen sich dort zu verankern.
Dabei bemerkte sie, dass die Struktur zwar mit ihren Tentakeln tastbar war, aber dass sich der Tentakel optisch schon im Material drinsteckte. Automatisch löste sie den Griff um den Fehler zu korrigieren, verlor dabei aber den Halt und begann wieder abzutreiben. Sie verankerte sich erneut und ignorierte den optischen Hinweis, dass ihr Tentakel in der Struktur steckte. Eine Schallwellenanalyse zeigte ihr dann, dass sich ihr Tentakel der Struktur noch gar nicht genähert hatte. Das alles war nicht wirklich berechenbar und RX-23125S merkte, wie sich ihr Fehlerprotokoll wieder füllte. Sie ignorierte Schall und Optik und verließ sich auf ihr Tastsensoren.
Der eigentliche Kern der Struktur ragte nicht weit von ihr im dunklen der Röhre auf. Und es gab Bewegung sowie violette Lichtpunkte dort. Wobei die violetten Lichtpunkte kurz darauf verschwanden. Diese Struktur war etwas völlig Unbekanntes und je mehr sich RX-23125S damit beschäftigte umso mehr interne Fehler liefen auf. Alle diese Fehler wiesen auf Rechenunmöglichkeiten hin. Die Struktur war mathematisch nicht zu erfassen. Sie beendete alle laufenden automatischen Berechnungen, die sich direkt mit der Struktur befassten.
RX-23125S verharrte ruhig und beobachtete die Kernstruktur vor sich. Aufgrund der fehlenden Helligkeit konnte sie nur ungenau erkennen, wodurch die wahrgenommenen Bewegungen erzeugt wurden. Es waren kleine Bewegungen. Eine kurze Analyse zeigte auf, dass es sich wahrscheinlich um Bestandteile der Struktur selbst handelte, die sich bewegten. RX-23125S würde näher heranmüssen, um mehr zu erfahren. Vorher war es aber wichtig herauszufinden, worum es sich bei dieser Struktur handelte. Bot sie eventuell eine Möglichkeit, aus der Röhre zu entkommen?
Die Struktur wies zwar keine Ordnung auf, zeigte aber einen Klumpen, über dem die Strömung des Wassers in der Röhre in unregelmäßigen Abständen durcheinandergeriet. So als ob es dort abgesaugt wurde. Eine Abzapfstelle in die dahinter liegende Kaverne mit hoher Wahrscheinlichkeit. Aufgrund des dunklen Fensters in der Seitenwand der Röhre, an dem RX-23125S zuletzt vorbeigekommen war, war es logisch, dass das abgesaugte Wasser in die Kaverne neben der Röhre geleitet wurde. Damit bot sich eine Möglichkeit, um wieder an die Torusebene zu gelangen. Denn eine Kaverne war normalerweise von natürlichem Gestein umgeben. Ein Medium, für deren Durchquerung Sonde RX-23125S erdacht und gebaut worden war.
Die Bewegungen an der Struktur konnte RX-23125S bisher noch nicht näher analysieren. Sie schob sich vorsichtig zwischen den Strukturelementen näher an den Klumpen heran. Nach und nach wurde die Quelle der Bewegungen klarer für die Sensoren zu erkennen. Es handelte sich nicht um Bestandteile der Struktur selbst, sondern um mobile kleine Roboter. Diese schienen Reparaturen an den Strukturelementen vorzunehmen. Es würden hin und wieder auch größere Objekte vom Meeresgrund des Eismeeres von Pryrr in den Strudel geraten und damit in diese Röhre geraten. Es war abzusehen, dass auch eines dieser Objekte mit der in die Röhre hineinragenden Struktur zusammenprallte. Wodurch sie zwangsläufig auch mal beschädigt wurde.
Darauf folgend musste natürlich auch eine Möglichkeit zur Reparatur vorhanden sein. Je näher sich RX-23125S voran arbeitete, umso mehr stieg auch die Möglichkeit, dass sie entdeckt wurde. Trotzdem blieb ihr kaum eine andere Vorgehensweise übrig, wenn sie diese Röhre verlassen wollte. Die mobilen Wartungsroboter konnte RX-23125S nun klar erkennen und fand sie in ihrer Datenbank wieder. Sie verharrte sofort und versuchte mit den internen Panik- und Fluchtprogrammen, klarzukommen.
Es waren kleine dreibeinige Dienerroboter der Noldoks. Mit diesen kleinen Dienerrobotern wurde einst die Roboterstadt versklavt und umgesiedelt. Sie verfügten damals über einen Nutrionenstrahler der jegliche elektrische Aktivität in einem Mech sofort annullierte. Zurück blieb immer ein Haufen Metall ohne Intelligenz. Wenn einer der Dienerroboter über solche eine Waffe verfügt und sie wahrnahm, war es um RX-23125S geschehen. Eine Warnung würde es nicht geben. Dienerroboter waren ebenso kompromisslos wie ihre Herren die Noldoks. Durch den Anblick der Dienerroboter hatten sich uralte Programmroutinen aktiviert und versuchten die Kontrolle zu übernehmen. Panik und Flucht waren dabei ihre Hauptanliegen.
RX-23125S hatte Glück, das sie ihr innerstes umgebaut hatte. Sie schaffte es, die urplötzlich aktivierten Programmroutinen in einen separaten Speicher auszulagern. Dort würden sie keinen Schaden anrichten können, wären aber inhaltlich verfügbar. Eine kurze Analyse zeigte, dass mit ihrem Auftauchen auch ein wenig neues Datenmaterial daherkam. Daher auch das Wissen um die Dienerroboter und ihres Nutrionenstahlers. RX-23125S absorbierte das neue Wissen in ihre Datenbank. Und begann die aktuelle Situation, neu zu analysieren. Normalerweise konnte außer den Noldoks niemand anderer einem solchen Dienerroboter Befehle erteilen. Hieß das nun, dass hier in der Kaverne Noldoks zugegen waren? Aber die bereits ermittelten Daten passten nicht zueinander. Sie widersprachen sich.
RX-23125S erkannte, dass ihre Analysen ihr nicht weiterhalfen. Sie stand vor Entscheidungen, die sie normalerweise nie alleine treffen sollte. Aber es gab hier keine übergeordnete Einheit, bei der sie eine Vorgehensweise abfragen konnte. Selbst die neu gefundene Einheit Jomikel war zurzeit außer Reichweite. RX-23125S musste alleine eine Entscheidung über ihre jetzige Vorgehensweise treffen. Stellte sie sich den mutmaßlichen Noldoks in der Kaverne oder ließ sie sich in der Röhre weitertreiben?

***

[Traumeinblendung]
Der kleine Kater sprang verspielt zwischen den beiden Pflanzen hervor und erschreckte ihn durch sein unverhofftes Auftauchen. Fast hätte er sich dabei vor Schreck in den Finger geschnitten. Aber er atmete einmal tief durch und freute sich dann, der noch immensen Lebenslust des kleinen Katers, der gerade mal vier Monate alt war. Schon hatte der kleine Kater etwas Neues bemerkt und schlich sich an, nur um Sekunden später wild darauf zuzupreschen. Er selbst bückte sich wieder und schnitt weiter, um die abgestorbenen Triebe zu entfernen.

***

Nach und nach sammelte er weitere Beute von der Oberfläche und baute eine kleine Kraftreserve auf. Es war nicht viel aber es würde für eine weitere Jagd in der Tiefe reichen. Mit hoffentlich besserem Ergebnis. Er schob sich aus der lockeren Nässe in die etwas trockenere Nässe der Tiefe hinab. Es brauchte eine Weile, bis er eine Schwingung aufnahm, die zu seiner Beute gehörte. Weit weg aber erreichbar, wenn er sich langsam und vorsichtig näherte. Die Beute bekam nicht mit, dass er sich ihr näherte. Erst als es für sie zu spät war. Sie versuchte natürlich eine Flucht, aber er nahm seine Kraftreserve und umschlang die Beute mit einer Windung seines Körpers und zog sich zusammen.
Die Beute hielt dagegen, und wenn er nicht gleich nach seiner Umschlingung zugebissen hätte, wäre sie entkommen. So aber erschlaffte sie nach und nach und er begann, sie Biss für Biss zu verzehren. Eine wohlschmeckende Beute, die seine Kraftreserven wieder komplett füllte. Es war so viel an Beute, dass er gar nicht alles vertilgen konnte. Er ließ einen Rest für andere Jäger unter seiner Beute zurück. Dann begann er seine fünfte Wanderung. Es wurde zeit, denn sein Körper bildete schon den Beginn der Verdickung aus. Es würde eine schmerzhafte Prozedur der Abnabelung folgen, wenn er keine Artgenossin finden würde. Dies hatte er bereits einmal durchleben müssen und ihm stand nicht der Sinn danach, es zu wiederholen.
Mit voller Kraft glitt er tief unter der Oberfläche in und durch das benachbarte Territorium, ohne das es zu einem Kampf kam. Mit schlängelnden Bewegungen schob er sich schnell durch den Boden. Immer mal wieder die Tiefe wechselnd und dabei ständig auf ein bestimmtes Signal achtend. Er verspürte ein Vibrationssignal, als die Verdickung schon schmerzhaft wurde. Ein Zeichen, das es bis zur Abnabelung derselben nicht mehr Lange dauern würde. Seine Zeit wurde knapp. Das Signal leitete ihn zu einer Artgenossin, die er wild umschlängelte und seine Verdickung in ihr abnabeln konnte. Durch die chemische Interaktion mit seiner Artgenossin ein schmerzloser Prozess. Seine dort zurückgelassene Verdickung würde sich chemisch in eine Vielzahl von Eiern ausbilden, aus denen später viele kleine Artgenossen schlüpfen würden.
Während seine Artgenossin sich entfernte, spürte er den Schlaf kommen. Er bewegte sich, in seine größtmögliche Tiefe, um Gefahren aus dem Wege zu gehen, und begann sich dort, einzuringeln. Nach einer Vereinigung begann sein Körper den Verlust, durch die Verdickung zu kompensieren. Dazu wurden verfügbare Kraftreserven genutzt. Gleichzeitig hatte es zur Folge, dass einige lebenswichtige Prozesse teilweise zum Erliegen kamen. Ein Schlaf stand an und so dämmerte er in eine leere Schwärze hinüber.

***

[Traumeinblendung]
Zwei Stimmen schrien Joy an. Jede wollte zuerst gehört werden und versuchten sich dabei gegenseitig zu übertönen. Joy hielt sich die Hände vor seine Ohren, erreichte damit aber nichts, denn die beiden Stimmen schrien in ihm drin. Sie hörten auch nicht auf, als er sie darum bat. Später schrie er sie an, still zu sein. Ohne erfolg. Zuletzt schrie auch er als dritte Stimme, bis ihm die Luft wegblieb.

***

Es war eine schwierige Entscheidung, aber RX-23125S traf sie. Sie näherte sich dem Abflussbereich immer mehr. Vorangegangen waren zahlreiche Berechnungen, die sie zur Entscheidungsfindung benutzte. Die Möglichkeit das sich Noldoks in der Kaverne aufhielten, war gegeben, auch wenn die dort befindliche verdrehte und verquirlte Struktur nicht ihrer Technik entsprach. Das Vorhandensein ihrer Dienerroboter, die ausschließlich den Noldoks gehorchen konnten, jedoch sprach wieder dafür. Allerdings zeigten die Berechnungen eine Tendenz, dass es eher eine fremde Technologie war, die diese Kaverne füllte. Es war zwar unwahrscheinlich aber es bestand die Möglichkeit, dass die Dienerroboter doch fremdgesteuert waren. Daher hatte sich RX-23125S dazu entschieden, die Kaverne aufzusuchen. Sie würde sich notfalls den Noldoks stellen, und wenn sie viel Glück hätte, dabei vielleicht überleben.
Vorher aber musste sie sich mit den Dienerrobotern auseinandersetzen. Wobei diese alle Vorteile hatten. Eine Wahrnehmung, ein Treffer aus einem Nutrionenstrahler und es gab RX-23125S nicht mehr. Nur ihre Hülle würde zurückbleiben. Aber sie hatte gar keine andere Wahl, denn auch wenn sie sich vorbeitreiben ließ, würden sie die Dienerroboter wahrnehmen. Und da eine Sonde der Roboterstadt in einer unterirdischen Röhre der Ringwelt nichts zu suchen hatte, würde ihre Existenz sofort beendet werden.
Da der Abfluss immer nur in unregelmäßigen Abständen durchlässig wurde, war es für RX-23125S schwer, eine Voraussage zu treffen, wann Wasser abgesaugt wurde. Vorsichtig näherte sie sich dem klumpigen Bereich. Immer bereit, vor den Dienerrobotern zu flüchten. Aber sie wurde überhaupt nicht beachtet. Die Dienerroboter arbeiteten weiter, obwohl RX-23125S für sie nun sichtbar sein musste. Ab und zu sah ein Dienerroboter in ihre Richtung, arbeitete aber ohne Unterbrechung weiter. Es gab keinen Schuss aus einem Nutrionenstrahler. Wieder eine Merkwürdigkeit, die nicht ins Bild passte.
Es bestätigte RX-23125S aber in seinem Vorhaben. Die Dienerroboter schienen fremdgesteuert zu werden. Ein unter Kontrolle der Noldoks stehender Dienerroboter hätte beim Auftauchen einer Sonde der Mechs sofort reagiert. Entweder aufgrund seiner eigenen Programmierung oder weil es ein Noldok befahl. RX-23125S ignorierte die Dienerroboter und operierte nun ganz offen. Der Abflussbereich begann sich wieder zu öffnen, nachdem sie längere zeit gewartet hatte. Während dessen hatte sie die Tätigkeiten der Dienerroboter beobachtet.
Die Dienerroboter schnitten große Stücke von der verdrehten und verquirlten Struktur ab. Diese trieben davon, wobei sie sofort von den Rändern her violett aufglühten, kleiner wurden und verschwanden. Dabei bemerkte RX-23125S, dass keinerlei Sogwirkung bei ihrem Verschwinden zu beobachten war. Kein Wasser strömte an den Platz, an dem vorher noch ein großer Brocken des verdrehten und verquirlten Strukturteiles trieb. Von solch einer Reaktion gab es auch keine Information in ihrer Datenbank.
Über dem Klumpen begann sich die Strömung des Wassers, wieder zu verändern. Ein Absaugen stand wieder bevor. Auf welche Art und weise sich der Abfluss öffnete, konnte RX-23125S derzeit nicht erkennen. Sie würde sich ins Unbekannte wagen müssen. Als der Sog des Wassers, anhand vergangener Beobachtungen, sein Maximum erreicht hatte, stürzte sich RX-23125S in den Sog hinein. Auf den Weg durch die Abflussstruktur passierte sie Mehrer seitliche Verstrebungen, an denen sie sich festhielt. Wobei sie sich ausschließlich auf ihre Tastsensoren verließ. Eine optische oder eine Schallmessung der Struktur brachten nur weitere Fehlermeldungen.
Kegelförmig fuhr eine Iris gegen die Strömungsrichtung empor und schloss sich dabei. Der Wasserstrom versiegte und zum ersten mal seit langen befand sich RX-23125S wieder außerhalb des Wassers. Unter sich erkannte RX-23125S einen See. Sie ließ sich langsam und vorsichtig zur Öffnung des Abflusses hinunter, ließ sich dort aber nicht in den See fallen. Es war eine Sache, dass die Dienerroboter in der Röhre ihre Waffen nicht eingesetzt hatten, eine ganz andere, wenn von ihnen auch welche in der Kaverne waren. RX-23125S hangelte sich außen an dem Abfluss wieder nach oben. Zu der Felsdecke, die sich dort befand. Von hier aus hatte sie einen guten Überblick über das Innere der Kaverne.
Unter ihr befand sich ein kleiner See, von dem aus ein Bach bis zu einem Felsabsturz floss. Von dort aus bahnte sich das Wasser seinen Weg über einen Wasserfall in eine unbestimmte Tiefe hinab. Neben RX-23125S erstreckte sich der Abfluss seitlich weg, um an der Felsendecke in der Ferne zu verschwinden. Die Abknickung bildete dabei den Ausfluss. Weitere Dienerroboter konnte RX-23125S nicht entdecken. Den optischen Daten nach erstreckte sich das Rohr bis zu einer riesengroßen verdrehten und verquirlten Struktur in der Ferne. RX-23125S schaltete seine optischen Sensoren ab, als die Fehlermeldungen überhand nahmen. Diese seltsam in sich verdrehte und verquirlte Struktur war nicht zu erfassen.
Immerhin hatte RX-23125S erkennen können, dass anscheinend zwei Drittel des Kaverneninnenraumes mit dieser seltsamen und nicht zu erfassenden Struktur gefüllt waren. Nur auf dieser Seite der Kaverne nicht. Bevor sich RX-23125S in die Felsendecke bohrte, scannte sie kurz das unter ihr liegende Plateau. Etwas bewegte sich dort. Es war größer als ein Dienerroboter und hatte soeben ein Feuer entzündet. Von der Form her glich es der Einheit Jomikel. Aber die Datenverbindung blieb inaktiv. Es war unmöglich, dass sich die Einheit Jomikel sich dort unten befand, denn als die Datenverbindung abbrach, befand der sich in der Region Pryrr. Recht weit entfernt für ein zweibeiniges Lebewesen. RX-23125S kannte keine Möglichkeit, wie sich Einheit Jomikel schneller als sie selbst bewegt haben könnte. Es musste sich um einen Artgenossen von Einheit Jomikel handeln.
RX-23125S überlegte kurz, ob sie eine Probe nehmen sollte. So wie sie es anfangs bei Jomikel versucht hatte. Sie fand allerdings keine begründete Logik darin, da ihre eigentliche Mission fehlgeschlagen war. Allerdings konnte sie aus der Ferne heraus Daten sammeln, um eventuell die Einheit Jomikel besser zu verstehen. RX-23125S optimierte ihre optischen Sensoren, um eine bessere Analyse des fremden Wesens zu gewährleisten. Es glich nicht in allen der Einheit Jomikel. Die Kopftentakel waren sehr viel länger. Zudem hatte es zwei Vorstülpungen vorne. Und es wirkte sehr viel älter, wenn man biologische Referenzdaten heranzog.
Das Wesen hatte das Feuer augenscheinlich selbst entzündet. Nicht weit von dem Feuer entfernt befand sich ein aus Ästen und Blättern erstellter künstlicher Bau. Da RX-23125S keinerlei Zugänge zu diesem Plateau erkannte, konnte das Wesen das Plateau nicht verlassen. Wobei die Frage auftauchte, wie es dort hingekommen war? Wo bekam es Nahrung her? Die letzte Frage beantwortete sich, als RX-23125S eine zweite Bewegung ausmachte, als ein Dienerroboter gerade aus der Felswand auftauchte. Es gab also doch eine Zugangsmöglichkeit zum Plateau. Und durch den Dienerroboter wurde wohl auch das fremde Wesen mit Nahrung versorgt. Nachdem der Dienerroboter wieder vom Plateau verschwand, beendete RX-23125S seine Fernanalyse und begann sich in die Felsdecke zu bohren.

***

Das Erste was Joy zu sehen bekam, waren weiße Wolken und das, was er spürte, war ein Nieselregen im Gesicht. Er fühlte sich sehr schwach, war aber am Leben. Er fragte sich, wie lange er wohl bewusstlos gewesen war. Während die Wolken über ihm hinwegzogen, dämmerte er wieder weg. Als er die Augen wieder einmal aufschlug, bekam er eine heiße Suppe mit Fleischfasern eingetrichtert, die er unwillkürlich herunterschluckte. Anschließend schlief er wieder ein.
Als er wieder wach wurde, ran ihm noch immer ein leichter Regen übers Gesicht. Er fühlte sich noch immer sehr schwach, aber kräftig genug, um sich ein bisschen zu bewegen. Ein dumpfes Hämmern im Kopf wies ihn auf leichte Kopfschmerzen hin. Und eine Ahnung auf kurze wirre Träume. Vorsichtig setzte Joy sich auf. Zirkon und Czarn saßen neben ihm an Feuer und sahen ihn an.
«Ich fühle mich noch etwas schwach», gab Joy bekannt. «Was ist passiert?»
«Du fielst einfach um», antwortete Zirkon.
«Du sagtest vorher noch, dass du Dringens Nahrung brauchtest», gab Czarn als weitere Information hinzu.
«Ich erinnere mich langsam wieder», entgegnete Joy. «Meine Kraftreserven waren aufgebraucht. Ich habe mir zuviel zugemutet.»
Joy sah sich langsam um. Die kalte Eis- und Schneeregion Pryrr lag hinter ihm. Zu sehen war sie nicht, da eine dichte Wolkenbank die Sicht versperrte. Aus dieser Wolkenbank lösten sich zahlreiche Wolken, die über ihnen hinwegzogen und dabei teilweise abregneten. Ihm war momentan auch nicht kalt. Nur nass. Zirkon und Czarn hatten keinen Unterstand gebaut. Joy ging auf, dass sie so etwas wohl auch nicht kannten. Das Feuer vor ihm wärmte nicht nur ihn, sondern auch eine Schale mit einer weiteren fleischigen Suppe. Er griff danach.
«Mit dieser Nahrung haben wir dich die letzte Zeit versorgt», berichtete Zirkon, während Joy sie hinunterschlürfte.
«Danke», erwiderte Joy. «Sie tut sehr gut.»
Joy schlürfte die Schale komplett leer. Während er sie neben dem Feuer abstellte, begann er seine Erinnerung zu durchforsten. Er konnte sich an wirre Träume erinnern. Einmal auch daran, dass ihm die fleischige Suppe von eben in den Mund geträufelt worden war. Ansonsten aber fand er keine Erinnerung an den Zeitraum seit seinem Kollaps. Da er nicht selbst gelaufen sein konnte, mussten ihn Zirkon und Czarn getragen haben. Und wie Joy erkannte eine recht weite Strecke.
«Ihr habt mich getragen?», fragte Joy bei seinen Weggefährten nach.
«Wir wussten nicht, ob du Tod oder noch am Leben warst», gab Czarn zur Antwort. «Zirkon war der letzteren Meinung, aufgrund einer ähnlichen Erfahrung mit dir, und so trug er dich die erste Strecke.»
Czarn meinte die Erfahrung, die Zirkon mit ihm gemacht hatte, als er mit seiner künstlichen Kybernetik verschmolz, um sein Leben in der Eis- und Schneeregion zu gewährleisten. Damals waren es aber nur wenige Stunden gewesen. Zudem war Joy auf dem Hochplateau verblieben, während er diesmal getragen worden war. Ihm ging auch auf, dass Czarn anscheinend der Meinung gewesen war, dass er gestorben sei. So zumindest interpretierte Joy Czarns entsprechende Aussage. Wohl wissend das diese Interpretation auch falsch sein konnte, denn die sprachliche Übersetzung die Joys integrierte Kybernetik automatisch vornahm, konnte teilweise auch falsch sein.
«Danke», sagte Joy erneut zu Zirkon und Czarn hinüber.
Beide sahen sich kurz an und dann fragte Czarn, «was bedeutet ‚Danke‘?»
Joy war irritiert. Eine simple Frage und er hatte auf die schnelle keine Antwort darauf. In dieser Welt schienen Höflichkeitsformen kaum bekannt oder vorhanden zu sein.
«Ihr habt mir geholfen, am Leben zu bleiben», begann Joy. «Ohne euch wäre ich gestorben. In meiner Welt ist dieses ‚Danke‘ ein Ausdruck meiner Dankbarkeit.»
«Gut», entgegnete Czarn.
Für ihn schien die Antwort ausreichend zu sein, denn er widmete sich wieder dem Ausnehmen eines Schneehasen. Zirkon sah jedoch Joy immer noch an. Ob fragend oder nur so konnte Joy seinem Minenspiel nicht entnehmen.
«Ich bin euch etwas schuldig», setzte Joy hinzu.
«Verstehe und akzeptiere», sagte Zirkon.
Jomikel dämmerte, dass er sich damit eine Verpflichtung, gegenüber Zirkon aufgeladen hatte. Aber war das so verkehrt? Immerhin verdankte er Zirkon sein Leben. Es war nur fair und gerecht, wenn er zukünftig dafür einen Ausgleich schaffen konnte. Etwas, dass in seiner eigenen Welt selten geworden war. Joy ahnte, das Zirkon irgendwann auf die Abgleichung der Schuld bestehen würde.
«Ich glaube, ich kann diesmal neben der Suppe auch etwas Festes vertragen», sagte Joy zu Czarn hinüber, der mit dem Ausnehmen des Schneehasen fertig geworden war und anfing, ihn für eine weitere Suppe kleinschneiden zu wollen.
Nachdem Joy ein Viertel des gebratenen Schneehasen gegessen hatte, verspürte er ein entsprechendes Bedürfnis. Als er sich aufrichtete, merkte er erst so richtig, wie schwach er noch war. Trotzdem mühte er sich auf und ging hinter das nächste Gebüsch. Kaum zum Lagerfeuer zurückgekehrt wurde er müde. Sein Körper verfügte noch bei weitem nicht über ausreichende Kraftreserven.
Bei seinem nächsten Erwachen stand eine weitere kleine Schüssel mit Fleischbrocken neben ihm. Zirkon saß neben dem Feuer und blickte in die Ferne. Czarn war nicht zu sehen. Joy setzte sich auf und langte zur Schüssel. Das Fleisch war lauwarm und schmeckte gut. Es dauerte nicht lange, bis die Schale leer war. Mit jedem Bissen fühlte Joy sich besser. Er schwankte allerdings noch ein wenig, als er aufstand. Aber dies legte sich schnell. Joy atmete tief durch. Die Luft roch noch nach Schnee, war aber nicht kalt.
«Es geht dir besser?», fragte Zirkon.
«Ich denke, einen kleinen Fußmarsch überstehe ich», antwortet Joy ihm.
«Czarn ist auf der Jagd. Wir haben noch Zeit für zwei deiner Schlafperioden», informierte Zirkon ihn weiter.
Joy nickte ihm zu und entfernte sich vom Lagerfeuer. Zwei Tage der Ruhe würden ihm guttun. Wobei Joy nicht genau sagen konnte, ob seine Schlafzeiten regelmäßig verliefen. Ein Gedankenimpuls teilte ihm dabei gleichzeitig mit, dass dies eben nicht der Fall sei. Der Boden um das Lagerfeuer senkte sich ein wenig nach unten ab. Daher dort auch der trockene Boden, derweil Joy nun eine beginnende Nässe an den Füßen verspürte. Die Eis- und Schneeregion, aus der sie gekommen waren, zeigte noch immer ihre Auswirkungen. Die Nässe der Regenschauer hielt auch hier noch den Boden nass.
Die Umgebung bestand aus einigen wenigen Büschen und Sträuchern. Ansonsten war es eine noch eher graubraune Umgebung. Joy ahnte, warum Czarn länger auf der Jagd war. Da sie anscheinend schon einige Tage hier waren, gab es n der näheren Umgebung kaum noch Jagdwild. Czarn musste eine größere Entfernung zurücklegen. Und das dauerte halt. So erhielt Joy immerhin noch etwas mehr zeit, um wieder vollständig zu Kräften zu kommen. Und auch, um sich gedanklich zu orientieren.
Seine letzte Erinnerung war die einer großen grauen Wolke, aus der heftige böige Winde, peitschende Eiskristalle und eine eisige Kälte kamen. Er hatte sich überschätzt und hatte die Quittung erhalten. Zum Glück hatte ihn Zirkon nicht aufgegeben wollen. Soweit Joy das verstanden hatte, war das bei Czarn anders gewesen. Wahrscheinlich gab es im Clan des Czaarts die Vorgehensweise, dass ein als tot wirkendes Mitglied zurückgelassen wurde. In solch einer Eis- und Schneeregion konnte man sich nicht um geschwächt zurückbleibende kümmern. Insofern verstand Joy Czarns handlungs- und entscheidungsweise. Allerdings hatte er ihn, nachdem Zirkon ihn nicht aufgeben wollte, eine ganze Zeitlang getragen.
Für Joy war es die erste Situation, in der er massiv auf Hilfe angewiesen war. Er sah es als Glück an, das er Zirkon schon eine ganze Weile auf seiner Reise dabei hatte. Ohne ihn wäre er mit Sicherheit in der Kälte gestorben. Eine andere Sache machte ihm jedoch weitaus mehr sorgen. Bisher hatte er die Vorteile, die seine Verschmelzung mit der Kybernetik gezeigt hatte, ohne zu hinterfragen genutzt. Wobei er sich nicht so richtig Gedanken darüber gemacht hatte, welchen Preis er dafür zahlen musste. Die Verschmelzung brauchte eine permanente Energiezufuhr in Form von Nahrung. Im Fall seines Zusammenbruchs war sie versiegt gewesen. Im Normalfall konnte ein Mensch einige Tage lang ohne Nahrungszufuhr auskommen. In seinem Fall wusste er nun, dass dieser Vorteil nicht mehr vorlag. Er war zukünftig auf eine permanente Nahrungszufuhr angewiesen.
Während Joy sich umsah, entdeckte er zahlreiche Erhebungen, ähnlich derer, auf denen ihr Lagerfeuer brannte. Die Umgebung war übersät mit ihnen, soweit er sehen konnte. Die dunkle Wolke war nicht weit entfernt, kam aber nicht näher. Ein leicht warmer Wind wehte in Richtung der Wolke und hielt sie auf Abstand. Joy genoss die leichte Wärme der Luft und atmete tief durch. Neben den Schneegeruch lag auch ein Geruch nach Harz in der Luft. Der Dschungel, von dessen Bäumen er tropfte, befand sich noch weit entfernt. Nur sein grüner Schimmer war am Horizont und darüber zu erahnen. Erst als Joy seine Fernsicht zu Hilfe nahm, erkannte er den Dschungel genauer. Er bedeckte die gesamte Breite der Ringweltebene.
Die Erholungsphase tat Joy gut. Mit jedem Bissen Nahrung und jeder kleineren Schlafperiode fühlte er sich besser. Als dann Czarn zurückkehrte, fühlte er sich wieder topfit. Czarn hatte reichlich Beute mitgebracht. Sie aßen sich satt und brachen auf. Langsamer als vorher wie Joy schnell feststellte. Ihm ging schnell die Puste aus und brauchte häufiger Pausen. Ihm wurde klar, dass er sich noch immer in seinen Kräften überschätzte. Ihm kam eine Idee, die er gedanklich sofort umsetzte.
«Begrenzungswarnungen etablieren. Auf Basis meiner körperlichen Möglichkeiten vor der Verschmelzung. Darstellung als Ampel», dachte Joy und hoffte, dass er der KI in sich die richtigen Impulse gegeben hatte.
«Parameter für Gelb bei einhundertzehn, für Rot minus zehn Prozent des bereits erfolgten Zusammenbruches», dachte Joy weiter.
«ERSTELLUNG LÄUFT», tauchte kurz vor seinen Augen auf.
Es dauerte nur Sekunden, bis er vor seinem inneren Auge eine gelb leuchtende Ampel sah. Recht klein aber durchaus wahrnehmbar. Problem war nur, dass er sie ständig vor Augen hatte.
«Ampel nur anzeigen, wenn das Gefahrenpotenzial gelb erreicht wird», dachte Joy.
Wobei ihm gleichzeitig aufging, ob er eigentlich noch als Mensch galt? Welcher normale Mensch hatte quasi eine Kybernetik in sich selbst? Konnte damit seine körperlichen Fähigkeiten steigern? In seiner vergangenen Welt wurden solche Menschen Superhelden genannt. Vorzugsweise in Comics. Joy schüttelte den Kopf bei diesen Überlegungen. Er lebte nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Eine Zukunft, die durch das Finden dieser Ringwelt einen gewaltigen Sprung nach vorne getan hatte. Er fühlte sich normal. Allenfalls als Wegbereiter, denn die Unterlagen zu seiner Kybernetik befanden sich noch immer auf der Erde. Irgendwann würde man diese finden und umsetzten. Und später würden sich auch Verschmelzungen mit dem Bewusstsein eines Menschen ergeben. Vielleicht war er zum jetzigen Zeitpunkt der Erste. Aber er würde es nicht bleiben.
«ERSCHÜTTERUNGEN IM ERDBODEN.»
Joy blieb sofort stehen und warnte Zirkon, der vor ihn lief. Czarn stoppte neben ihm.
«Eine weitere Pause?», fragte er.
«Nein», antwortete Joy. «Ich spüre Erschütterungen im Boden unter uns. Etwas nähert sich uns von dort unten.»
«Ein Erdwurm», gab Zirkon von sich. «Ich hätte eher daran denken müssen. Der feuchte Boden ist ihr bevorzugter Lebensraum.»
«Was ist ein Erdwurm?», fragte Czarn.
Joy war überrascht. Dann ging ihm auf, dass Czarn bisher in einer Welt aus Eis und Schnee gelebt hatte. Dort gab es aufgrund des immerwährenden gefrorenen Bodens keine Erdwürmer.
«Eure Ältesten haben keine Erzählungen über Erdwürmer?», fragte Zirkon, bevor Joy etwas Ähnliches fragen konnte.
«Wir kennen Springwürmer», entgegnete Czarn. «Und die großen Nicor, in den Tiefen des Meeres. Erdwürmer sind mir nicht bekannt.»
«Sie sind ähnlich wie Springwürmer. Nur sehr viel Größer. Sie leben in der Erde und jagen ihre Beute, indem sie diese aus dem Boden herausschießend mit ihrem Maul verschlingen», erklärte Zirkon.
«Sie spüren die Erschütterungen, die ihre Beute auf der Erde beim Gehen verursacht», erklärte Joy weiter. «Wir sollten uns nicht bewegen aber den Erdwurm auf eine andere Fährte locken.»
Während Joy dies Czarn erklärte, nahm er einen größeren Brocken nasser Erde vom Boden auf und warf sie weit nach vorn. Es dauerte nur wenige Augenblicke bis dort, wo der Brocken Erde zu Boden gefallen war, aufbrach und ein Erdwurm emporglitt.
«Solch ein Wurm könnte in Pryrr nicht durch die gefrorene Erde gleiten», stellte Czarn fest, nachdem dieser immer langsamer werdend, rund zwölf Meter über dem Boden zum Stillstand kam. «Aber wenn, wäre er eine gute Nahrungsquelle.»
Wobei er mit seinem Lichtwerfer den Erdwurm in zwei Hälften zerschnitt. Das untere Ende des Erdwurmes verschwand fast augenblicklich im Erdboden, wobei ein kleiner Tümpel zurückblieb. Der obere Teil klatschte seitlich in den Morast und schlängelte sich in den Erdboden hinein.
«Einen Erdwurm kann man nicht töten», ließ Zirkon vernehmen. «Jetzt gibt es statt eines Großen, nun zwei Kleine, die uns jagen können.»
«Es wäre ein guter Fleischlieferant gewesen», bemerkte Czarn und verstaute seinen Lichtwerfer wieder am Körper. «Wenn es sie in Pryrr gegeben hätte, hätten wir einen Weg gefunden, um sie zu erbeuten. Ein Einziger von Ihnen hätte einen ganzen Clan ernähren können.»
«Kein Czaart hat jemals einen Erdwurm erbeuten können», entgegnete Zirkon. «Und auch kein Zek.»
Czarn erwiderter darauf nichts, sondern begann, die Wanderung fortzusetzen. Joy folgte ihm mit Zirkon an seiner Seite. Je weiter sie kamen, umso grüner wurde die Landschaft um sie herum. Es dauerte allerdings noch lange, bis der erste Baum auftauchte. Ein nicht gerade hoher Baum mit seltsam aussehenden Blättern. Grün zwar aber mit langen Spitzen an denen dunkle Beeren hingen.
Ein kurzes Blinken vor seinem inneren Auge ließ Joy innehalten.
«Ein Erdwurm?», fragte Zirkon.
Joy war sekundenlang irritiert. Das Blinken wies auf eine Nachrichtenübermittlung hin, die nur von der Sonde RX-23125S stammen konnte.
«Nein», antwortete Joy. «Ich erhalte gerade eine Nachricht von dieser Sonde.»
Zirkon sah sich alarmiert, um was wiederum Czarn veranlasste, zu ihnen zurückzukehren.
«Droht Gefahr?», fragte er.
«Die fremde Sonde scheint wieder aufgetaucht zu sein», antwortete Zirkon. «Jomikel steht mit seiner Magie gerade in Kontakt mit ihr.»
Joy musste innerlich etwas schmunzeln, als er es hörte, obwohl ihm nicht danach war. Für Zirkon sprach er mit seinen Ahnen, wenn er mit der Kybernetik kommunizierte. Nur das es diesmal nicht seine Kybernetik war, die eine Nachricht schickte, sondern diese fremde Sonde RX-23125S aus dem Untergrund von Pryrr. Als das Blinken aufhörte, ließ Joy die Nachricht scannen. Es war ein Bild, das er nach dem Öffnen der Nachricht zu sehen bekam. Etwas dunkel, so dass Joy nicht auf Anhieb erkennen konnte, was er darauf sah.
«Ich habe ein Bild übermittelt bekommen», informierte Joy seine Wegbegleiter.
Joy fragte sich, warum kein Text übermittelt wurde. Nur dieses Bild, das anscheinend eine dunkle Höhle zeigte. In der Mitte des Bildes gab es eine Lichtquelle, neben der sich ein Schatten befand. Es gab noch einen zweiten Schatten weiter entfernt von der Lichtquelle. Joy war allerdings über die Perspektive irritiert. Bis ihm aufging, dass er von oben herabsah. Es schien in einer Höhle aufgenommen worden zu sein. Was die Frage aufwarf, wie die Sonde RX-23125S von ihrem Untergang im Eismeer von Pryrr in solch eine Höhle gekommen war.
Oder war es ein schon älteres Bild, das nun nur übermittelt wurde? Aber warum? Die Sonde würde einen Grund haben ihm dieses Bild zuzusenden. Etwas, das mit Worten vielleicht nicht zu übermitteln war? Joy hatte das Gefühl auf dem richtigen Weg zu sein. Auf dem Bild würde demnach etwas zu erkennen sein, das für ihn etwas bedeutete. Nur fragte sich Joy gleichzeitig damit, woher Sonde RX-23125S wissen wollte, was für ihn von Bedeutung war? Joy konzentrierte sich auf die zwei Schatten auf dem Bild.
«Das Bild aufhellen und beide Schatten separieren», gab er lautlos an die Kybernetik weiter.
Die Lichtquelle erwies sich als kleines Lagerfeuer und die zwei Schatten waren Lebewesen. Aber auch bei der angewendeten Vergrößerung waren sie unklar.
«Beide Schattenbilder vergrößern soweit möglich», wies er den kybernetischen Teil von sich an.
Vor Joys innerem Auge wuchsen die zwei separierten Bilder an und langsam konnte man darauf auch etwas mehr erkennen. Als die Bilder unscharf zu werden begannen, veranlasste Joy mit einem gedachten «Stopp» Befehl die Vergrößerung. Unwillkürlich sah er sich das Bild mit dem Schatten neben dem Lagerfeuer an. Das andere Bild zeigte ein dreibeiniges Lebewesen. Das andere aber war zweibeinig. Saß auf einem Stein und sah in Richtung des dreibeinigen Wesens hinüber. Es wirkte ihm vertraut.
«Ein Mensch!», entfuhr es ihm.
Das war das Bedeutsame, das ihm Sonde RX-23125S übermitteln wollte. Den Grund herauszufinden, warum sie das tat, schob Joy erst einmal weg. Ihm war wichtiger herauszufinden, um wen aus der ehemaligen Besatzung der SITAE es sich auf dem Bild handelte. Denn um einen von Ihnen musste es sich handeln. Es gab sonst keine weiteren Menschen an Bord der Ringwelt.
«Was ist ein Mensch?», fragte Czarn.
Joy war so irritiert durch diese Frage, dass er automatisch das Bild in seinem Kopf ausblendete und sich Czarn zuwandte.
«Ich bin ein Mensch», antwortete Joy ihm.
Ihm ging auf, dass er Czarn und auch Zirkon noch nicht mitgeteilt hatte, dass seine Gattung sich Mensch nannte. So wie Zirkon der Gattung der Zeks und Czarn der Gattung der Czaart angehörte.
«Jomikel, der Mensch», zischte Zirkon.
Er schien vergnügt darüber zu sein, obwohl Joy das Minenspiel des Zek nicht deuten konnte. Aber sein Zischen schien ihm gefühlsmäßig eher zum Vergnügtsein zu neigen als zum Gegenteil.
«Deine Art nennt sich also Mensch», gab Czarn von sich. «Aber warum nanntest du diese Bezeichnung eben? Hast du einen anderen Mensch über das magische Sprechen gefunden?»
Joy ignorierte die falsche Zeitform und Aussprache des Begriffes Mensch, die Czarn eben benutzte.
«Ich habe auf dem Bild, das mir die Sonde übermittelte, einen Menschen gefunden», gab Joy ihm zur Antwort. «Es kann sich nur um einen meiner Schiffskameraden handeln. Nur weis ich noch nicht um wen, denn das Bild ist recht unscharf.»
«Die Sonde weis um die Existenz eines anderen Mensch?», überlegte Czarn. «Dann kann sie ihn nur im Untergrund von Pryrr begegnet sein.»
Seine Überlegungen waren nicht von der Hand zu weisen. Joy fragte sich aber, wie ein Besatzungsmitglied der SITAE in den Untergrund der Region Pryrr gekommen war. Waren sie damals bei seinem plötzlichen Verschwinden auf der Suche nach ihm gewesen? Joy nahm dies stark an. Nur war es dann unlogisch zwei Regionen entfernt, nach ihm zu suchen. Da die Sonde aber auch technologischen Ursprungs war, konnte sie durchaus diese Bildinformation von einer anderen Sondeneinheit übermittelt bekommen haben. Diese letzte Überlegung besaß auch die höchste Wahrscheinlichkeit.
«Lässt sich die Auflösung des übermittelten Bildes im Bereich der zwei Schatten verbessern?», gab Joy gedanklich an seine Kybernetik weiter.
«POSITIV», vernahm Joy auf gleichem Wege. «BERECHNUNG LÄUFT.»
«Es muss ein Mensch sein», erklärte Joy, um die Wartezeit zu überbrücken. «Wir waren zweihundertfünfundfünfzig Menschen, als wir mit der SITAE aufbrachen. Durchaus möglich, dass einer von ihnen auf der Suche nach mir verlorenging. Ich muss ihn finden.»
«Dann müssen wir die Sonde finden», antwortete Czarn. «Nur sie kann dir die Information liefern, wo dein Artgenosse zu finden ist.»
Joy sah zurück in Richtung der Eis- und Schneeregion Pryrr. Die dunkle Sturmwolke lag fast unbeweglich in der Dämmerungszone zwischen den Regionen. Dort wollte er nicht noch einmal hin.
«BERECHNUNG BEENDET», vernahm Joy in Gedanken.
Joy sah sich das Bild vor seinem inneren Auge erneut an. Zoomte erst zu dem einen Schatten, der weiter vom Lagerfeuer entfernt war. Ein Körper mit anscheinend drei Beinen. Zudem konnte Joy zahlreiche andere dünne Arme erkennen. Kein Mensch. Als er dann in den anderen Schatten, gleich neben dem Lagerfeuer hineinzoomte, stockte ihm sein Atem. Das Gesicht war ihm sehr vertraut und trotz das es älter aussah als in seiner Erinnerung, kannte er es sehr gut.
«Singha», hauchte er, während ihm Tränen aus den Augen liefen.
«Dein Artgenosse?», fragte Zirkon.
«Meine Gefährtin», flüsterte Joy geschockt.

End

Geschrieben von Andreas Blome